Der große Graben

Mt 15,21-28
Vor einem Vierteljahrhundert fiel die Mauer in Deutschland. Dennoch existiert sie in den Köpfen mancher Deutscher noch heute.
Zur Zeit Jesu gab es einen tiefen Graben zwischen Juden und Heiden. (Mauer) Juden hielten sich für etwas Besseres. In einem frühjüdischen Zeugnis heißt es:
Und so umgab er uns mit […] eisernen Mauern, damit wir uns mit keinem der anderen Völker irgendwie vermischten, sondern rein an Leib und Seele […] blieben […]. Wir sollten uns nicht durch Gemeinschaft mit andern beflecken.
Gerade in Gegenden, wo Juden nur eine Minderheit bildeten. Matthäus berichtet uns, daß Jesus sich genau in ein derartiges Gebiet zurückzog.
„Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.“    Mt 15,21
Tyrus war eine große phönizische Hafenstadt an der Mittelmeerküste, deren Einfluss sich auf die kleineren Dörfer im Umfeld ausdehnte. Dieses Gebiet bildete die nördliche Grenze zu Galiläa.
Die Tyrer galten als stark antijüdisch eingestellt. In Dörfern im Grenzland lebten jedoch auch einige Juden. Dorthin zog sich Jesus zurück.
Grund dafür war sicherlich, daß die Jünger und Jesus sich eine Pause gönnen wollten. Dort, wo man Jesus nicht kannte. Allerdings sollte diese Rechnung nicht aufgehen!
„Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.“    Mt 15,22
Diese Frau, eine Kanaaniterin, gehörte damit zu den Götzendienern. Wie kommt so diese Frau darauf, Jesus um Hilfe zu bitten? Einen jüdischen Wanderprediger? Sie muss vorher irgendwie von ihm gehört haben.
Sie ging sicher schon alle anderen Wege, um ihrer Tochter zu helfen. Aber nichts funktionierte. Jetzt war ihre Chance gekommen.
‚Not lehrt beten‘, sagt man. Auch wir haben gelernt, uns an Jesus zu wenden. Nicht nur in der Not. Aber dann erst recht. Wenn Schuld uns belastet. Wenn Sorgen uns drücken. Wenn wir krank werden. Wenn uns Existenzängste befallen.
Wollte diese phönizische Frau es ausprobieren? ‚Was kann dieser jüdische Lehrer schon für mich tun?‘ Aber dann doch mit dem Mut der Verzweiflung. Vielleicht versuchten Bekannten sie davon abzuhalten: ‚Du bist verrückt! Das kannst du nicht machen!‘
Es war jedenfalls nicht schicklich für eine Frau einem wildfremden Mann hinterher zu schreien. Man konnte sie wahrscheinlich eher hören als sehen. Noch dazu als gebildete Städterin auf dem Land. Und wie reagiert Jesus?
„Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.“    Mt 21,23
Unglaublich! Jesus ignoriert die Frau! Jesus geht einfach weiter. Hat – mit dir auch schon?
Gott antwortet nicht! Bleibt fern! Er schweigt! Dieses Schweigen stellt unseren Glauben auf eine harte Probe. Dann kommen Fragen: Lohnt sich beten überhaupt noch? Was hat das ganze denn für einen Sinn? Gott, tu doch endlich was!
Nichts passiert! Gar nichts! Totales Schweigen, Stille!
Den Jüngern wird die Situation langsam peinlich. ‚Schick sie doch weg, dann haben wir wieder unsere Ruhe. Mach irgendetwas, damit wir sie loswerden!‘
„Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“    Mt 21,24
Jesus bricht das Schweigen. Ich bin nicht zuständig! Diese Frau ist keine Israelitin.
Ist doch unglaublich! Klingt merkwürdig und teilnahmslos.
‚Warum reagiert er nicht? fragt sich die Frau. ‚Ist das alles gar nicht wahr, was ich über ihn gehört habe?‘
„Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!“    LMt 21,25
In unserer Gesellschaft würde man so jemand als hysterisch bezeichnen. Zur damaligen Zeit waren manche Richter so korrupt, dass nur ausgesprochene Hartnäckigkeit zu Gerechtigkeit führte. Jetzt kann sich auch Jesus nicht mehr entziehen.
„Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“    Mt 21,26
Das klingt hartherzig. War es auch. Mit anderen Worten: ‚Als heidnische Hündin bist du nicht würdig, dass ich mich um dich kümmere.‘
Ein Hund galt damals als das verachtetste, frechste und elendeste Geschöpf. Es war ein Zeichen von gehässiger Verachtung, wenn man einen Menschen als ‚Hund‘ bezeichnete.
So etwas aus dem Mund Jesu, der sonst von Feindesliebe spricht, vom barmherzigen Samariter predigt? War Jesus etwa gefangen in damals üblichen Vorurteilen gegenüber Frauen und Ausländern?
Im Griechischen gibt es zwei Begriffe für ‚Hunde‘?
1. streunende „Straßenköter“ – Symbol für Verachtung und Schande.
2. Haustier – Schoßhund bezeichnet
Jesus gebraucht das Wort Haustier. Wohlhabende Griechen hielten sich Hunde als Haustiere.
Zugegeben: Diese Aussage Jesu wirkt damit zwar milder. Aber auch so wird das Schimpfwort ‚Hündchen‘ nicht zur Schmeichelei.
Wie reagiert die Frau?
„Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“    Mt 21,27
Dass Jesus sie als ‚Hund‘ bezeichnet, steckt sie einfach weg. Trotzdem leistet sie Widerstand, aber äußerst klug. Geschickt fängt sie das Wort auf das gegen sie geschleudert wurde und wirft es zurück.
Sie deutet das Bild um.
In Jesu Aussage reicht das Brot nicht für alle. Wenn Hunde schon das Brot fressen, fehlt es den Kindern.
Die Frau denkt anders. Selbt wenn die Kinder das Brot zuerst bekommen, fällt immer noch genügend für den Haushunde ab. Und zwar nicht bloß Krumen, sondern Stückchen, die bewusst von den Kindern für ihre Lieblingstiere fallen gelassen werden.
Wieso soll also Jesus ihre Tochter nicht heilen können? Wenn er Gottes Sohn ist, hat er von allem mehr als genug. Selbst wenn er nur für die Juden gekommen ist, ist trotzdem noch genug für die Heiden da.
„Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“    Mt 15,28

Als die Heidin mit griechischer Bildung sich Jesus rhetorisch überlegen zeigt, freut sie sich. Diese Frau hat unglaublichen Glauben demonstriert. Jeder weniger ernsthaft Suchende hätte vorher aufgegeben.
Aber diese kanaanäische Frau war überzeugt, dass sie Gott nichts bieten muss, um Heilung zu empfangen. Nicht die richtige Abstammung. Nicht genügend eigene Verdienste. Nur ihren unerschütterlichen Glauben.
Sie ließ sich nicht entmutigen. Weder durch Unwillen der Jünger, noch durch die vermeintliche Ablehnung Jesu.

Jesus sagt: „Frau, dein Glaube ist groß.“    Mt 15,28 Dass Jesus über den Glauben anderer erstaunt ist, kommt nicht oft vor. Genauer gesagt nur zwei Mal. Beim römischen Hauptmann der Jesus nicht damit bemühen will, extra in sein Haus zu kommen. Und hier: bei der Kanaaniterin. Beide Male: Glaube von Heiden.
Bewusster Glaube sprengt Grenzen! Setzt sich durch gegen alle Widerstände. Überbrückt Gräben. Bezwingt Mauern. Hofft, wo es scheinbar nichts zu hoffen gibt. Ruft, wo es schicklicher ist zu schweigen. Gibt sich in grenzenlosem Vertrauen ganz in die Hand Jesu. Auch dort, wo andere auf ihren Stolz nicht verzichten wollen.
Warum hat Jesus am Anfang so abweisend reagiert? Natürlich sagt uns der Text nicht direkt, was in Jesus vorging, als er die Bitte zunächst ablehnte. Manche haben daher vermutet, dass sich Jesus erst von der Frau belehren lassen musste, dass seine Mission auch Heiden umfasste.
Diese Vermutung liegt daneben. ¦ Jesus hat schon vor dieser Begebenheit mehrfach klargemacht, dass jüdische Abstammung allein keine Garantie auf ewiges Leben ist.
„Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen…..“    Mt 8,11

Immer wieder hat Jesus ganz unterschiedlichen Menschen das Angebot des Evangeliums gemacht: Gerechten und Sündern. Pharisäern und Zöllern. Ja sogar Ausgestoßenen und Dirnen. Zurücksetzung von Heiden ist nirgendwo zu spüren. Im Gegenteil: In Jesus geschieht dieses Zusammenströmen der Heiden schon jetzt. Die Syrophönizierin ist nur ein Beispiel.
Sie wird belohnt für ihre Ausdauer: „Dir geschehe, wie du willst!“
Jesus schließt sie nicht aus. Gott ist ein Gott für alle. Er möchte allen helfen, die an ihn glauben. Glaube macht den Unterschied, nicht Abstammung!
An Jesus glauben heißt, Jesus bei seinem Wort nehmen.
Glaube bedeutet:
1. verstandesgemäß davon überzeugt zu sein, dass Jesus der Sohn Gottes ist,
2. mit dem Herzen darauf zu vertrauen, dass alles, was Jesus sagt, wahr ist,
3. will schließlich auch konkret werden. Diese unerschütterliche Gewissheit wird sich in unserem Handeln zeigen.
So ein Glaube bewirkt etwas! Gerade heute im 21. Jahrhundert. Glaube überwindet Hindernisse. Glaube durchbricht Mauern und überbrückt Gräben. So einen Glauben wünscht sich Jesus auch bei uns. So einem Glauben wird sich Gott nicht verschließen. So ein Glaube bringt ans Ziel.
Jesus möchte auch uns Heil schenken. Wartet darauf, dass wir zu ihm kommen, zu ihm schreien. Dann kann unser Glaube Früchte tragen und das Unglaubliche geschehen. Nicht immer so, wie wir uns das wünschen. Doch Jesus handelt, heute wie damals.

Mit freundlicher Genehmigung von Jens Mohr